Aktuell ist Erdgas als Energieträger kaum aus Deutschlands Industrie wegzudenken. Allerdings steht mit Wasserstoff eine Alternative in den Startlöchern, die den CO2-Ausstoß deutlich reduzieren soll. Doch Anlagenbetreiber und -hersteller sind bisweilen unsicher: Welche Werkstoffe sind für Druckwasserstoff geeignet? Antworten gibt ein neuer Prüfstandard.
Neben einigen wenigen europäischen Ländern wie Frankreich oder Norwegen hat Deutschland bereits eine nationale Wasserstoffstrategie auf den Weg gebracht. Wasserstoff – sofern er per Elektrolyse mit Ökostrom aus Wasser erzeugt wird – hat das Potenzial, Deutschland aus der Abhängigkeit vom fossilen Energieträger Erdgas in eine grüne Zukunft zu führen. Schließlich entsteht bei der Oxidation von Wasserstoff kein CO2. Das unterstützt das Ziel, den Ausstoß des Treibhausgases zu reduzieren.
Die Wirtschaftlichkeit grünen Wasserstoffs ist bisher jedoch noch nicht gewährleistet. Mit ihrer Wasserstoffstrategie hat sich die Bundesregierung deshalb ein konkretes Ziel gesetzt: Bis zum Jahr 2030 soll ein nationaler Markt entstehen, auf dem Wasserstoff erzeugt und genutzt wird. Darüber hinaus soll Deutschland weltweit in eine Führungsrolle als Technologieexporteur für die Wasserstofferzeugung hineinwachsen. Für eine flächendeckende Nutzung von Wasserstoff innerhalb Deutschlands soll unter anderem die notwendige Infrastruktur mit Pipelines und die Speicherkapazität ausgebaut werden.
Viele Vorteile – aber auch Nachteile
Dass der Wechsel zu Wasserstoff viele Vorteile birgt, ist unbestreitbar. Doch was ändert sich durch seinen Einsatz? Ergeben sich Risiken für den laufenden Betrieb? Tatsächlich stehen die Verantwortlichen neuen Herausforderungen bei der Werkstoffauswahl gegenüber – sowohl bei seiner Herstellung, dem Transport, der Lagerung und schließlich seiner Nutzung.
Denn: Im Gegensatz zu Erdgas wirkt H2 auf einige Materialien versprödend. Diffundiert atomarer Wasserstoff in Werkstoffe, zieht er bei den meisten Metallen die strukturelle Integrität in Mitleidenschaft. Als Folge kommt es beispielsweise zur Bildung von Rissen, die ein Sicherheitsrisiko sind und unter Umständen kostenintensive Anlagenstillstände verursachen: Entweicht Wasserstoff aus geschlossenen Systemen, können sich mit Sauerstoff explosive Gemische bilden.
Vorhandene Normen nicht passgenau
Daher ist es unerlässlich, dass die Werkstoffe und Anlagenkomponenten vor ihrem Einsatz auf ihre Wasserstoffverträglichkeit geprüft werden. Die vorhandenen Regelwerke sind aber einerseits zu spezifisch und nicht auf alle Anwendungen übertragbar. Das betrifft zum Beispiel die jungen Power-to-Gas-Anlagen oder die Brennstofftechnik in der Elektromobilität.
Andererseits sind die Regelwerke zu allgemein. So müssen Werkstoffe, die mit Wasserstoff in Berührung kommen, laut der Druckgeräterichtlinie ausreichend chemisch beständig sein. Allerdings fehlen zu dieser Aussage verlässliche Grenzwerte. Auch die Europäische Verordnung EC 79/2009 bleibt mit der Aussage, dass Werkstoffe kompatibel mit Wasserstoff sein sollen, sehr vage.
Neuer Prüfstandard gewährleistet H2-Readiness
TÜV SÜD hat sich, um allen Beteiligten mehr Sicherheit zu bieten, mit (Komponenten-) Herstellern zusammengetan und den P-003 entwickelt. Dieser Prüfstandard berücksichtigt erprobte Normen wie
- die ISO/TR 15916 für grundsätzliche Betrachtungen zur Sicherheit von Wasserstoffsystemen,
- die ASME B31.12, welche sich mit Anforderungen an Rohrleitungen und Pipelines auseinandersetzt,
- oder die ANSI/CSA CHMC-1-2014, die sich mit der Materialverträglichkeit von Metallen in Druckwasserstoffanwendungen befasst.
Wenn eine Komponente oder ein System für die Verwendung mit Druckwasserstoff geeignet ist, bezeichnet man sie als H2-ready. Ob die H2-Readiness gewährleistet ist, hängt von vielen Faktoren ab. Zum einen sind da die Art und das Gefüge des Werkstoffs. Erfahrungswerte zeigen, dass insbesondere hochfeste Stähle anfällig für Wasserstoffversprödung sind. Sie kommen zum Beispiel in Rohren, Tanks oder Ventilen zum Einsatz, die beim Wasserstofftransport oder bei seiner Speicherung benötigt werden.
Weiterhin ist entscheidend, in welcher Gaszusammensetzung der Wasserstoff auf den Werkstoff einwirkt. Auch die Betriebsbedingungen spielen eine entscheidende Rolle. Dabei geht es vor allem um Temperaturen, Drücke oder vorherrschende Spannungen. Eine allgemeine Zertifizierung für eine Komponente oder einen Werkstoff ist daher nicht möglich. Sie muss individuell und unter Berücksichtigung der jeweiligen Betriebsweisen erfolgen. Das hat den Vorteil, dass Komponenten und Werkstoffe völlig unabhängig vom Industriezweig geprüft werden. Derzeit legt die Zertifizierung den Fokus auf Metalle. An einer Erweiterung für Kunststoffe arbeiten die Experten bereits.
Von der Dokumentenprüfung bis zum Audit
Zeigt die anfängliche Dokumentenprüfung eines Werkstoffs, dass er gegenüber Druckwasserstoff beständig ist, werden Werkstoffprüfungen überflüssig. Mittelfristig wird dies immer häufiger der Fall sein. Liegen allerdings keine gesicherten Daten vor, müssen die Werkstoffe im Labor untersucht werden. Komponenten enthalten unter Umständen mehrere Werkstoffe. Sofern sie mit Druckwasserstoff in Berührung kommen, muss für alle der Nachweis auf Wasserstoffbeständigkeit erbracht werden.
Dabei kommen unterschiedliche Testmethoden zum Einsatz. Mit dem so genannten Slow-Strain-Rate-Tensile-Test können die Sachverständigen nachweisen, ob sich die Eigenschaft eines Stahls zur plastischen Verformung verringert. Dafür werden unter Druckwasserstoff Langsamzugversuche vorgenommen. Falls eine Abnahme der Duktilität in Kontakt mit Wasserstoff auftritt, steigt die Gefahr der Rissbildung. Um die dynamische Beanspruchbarkeit eines Werkstoffs zu charakterisieren, können Druckzyklusprüfungen oder bruchmechanische Versuche durchgeführt werden. Auf dieser Basis prognostizieren Experten die Lebensdauer von kompletten Komponenten oder Werkstoffen unter realistischen Betriebsbedingungen.
Die Testmethoden und die Bewertung variieren je nach Einsatzgebiet und Werkstoff. Damit die Werkstoffbeständigkeit innerhalb der dreijährigen Laufzeit des Zertifikates gegeben ist, hält sich das Unternehmen an eigens dafür geschaffene Prüfprozesse und überprüft im Rahmen von jährlichen Audits die Einhaltung der zertifizierten Prozeduren.
Autoren: Dr. Thomas Gallinger, Leiter der Abteilung Wasserstoffprojekte und Simon Schlei, Material Expert / H2-Readiness, beide bei der TÜV SÜD Industrie Service GmbH in München
Text- und Bildquelle: TÜV SÜD